Ziele der Narrativen Medizin

Narrative Medizin, so wie von Charon definiert, richtet sich primär an in der Gesundheitsversorgung tätige Ärzt*innen, Pfleger*innen und Therapeut*innen. Narrative Medizin ergänzt biomedizinische Modelle und die evidenzbasierte Medizin mit geisteswissenschaftlichen Konzepten und Methoden. So sind das close reading, also die detaillierte und textnahe Interpretation, sowie im weiteren Sinne hermeneutische Ansätze Kernmethoden der Narrativen Medizin, da sie die Bedeutung eines Phänomens in den Vordergrund stellen. Als Deutungswissenschaft scheint beispielsweise die Literaturwissenschaft mit der Handlungsorientierung medizinischer Tätigkeiten im Widerspruch zu stehen. Doch auch in der handlungsorientierten Medizin sind Fragen nach der Bedeutung von Krankheit und Leiden zentral und unumgänglich für Patient*innen und ihre Behandler*innen. Literatur und Kunst, so die These der Narrativen Medizin, können einen wichtigen Beitrag dazu leisten, den Fokus in der Versorgung der Kranken nicht allein auf biomedizinische Erklärungsparadigma und Behandlungsleitlinien zu reduzieren. Die Narrative Medizin kann somit eine wichtige Funktion in der ganzheitlichen Orientierung medizinischen Handelns einnehmen.

Narrative Medizin versteht sich auch als ein Instrument der Selbstfürsorge, deren Bedeutung  der Weltärztebund erkannt und 2017 in das ärztliche Gelöbnis aufgenommen hat. Sie ermöglicht Behandler*innen sich in den komplexen Bedeutungen ihrer Tätigkeiten – sowohl für andere als auch für sich selbst – wiederzufinden und zu verorten. Selbstreflexion, Entschleunigung, ein anderer Blick auf Sprache und medizinische Themen – dies sind einige der Beobachtungen, die Teilnehmende von Workshops der Narrativen Medizin beschreiben. Literatur und Kunst können bei diesen und anderen Aspekten eine wichtige Rolle spielen. Die Narrative Medizin versucht mit dem Einsatz von Literatur und Kunst einen Raum zu schaffen, in dem die Teilnehmenden entscheiden können, welche Einblicke, (Selbst-)Erkenntnisse oder Zusammenhänge sie aus der Auseinandersetzung mit Kunst mitnehmen. Dies unterscheidet sich vom instrumentalisierenden Einsatz literarischer Texte (zum Beispiel zur Förderung bestimmter Lernziele, wie Perspektivwechsel oder empathischer Fähigkeiten).

Ein „Gebrauch“ von Kunst und Literatur in Kontexten der Gesundheitsversorgung kann auch zu Missbrauch führen, wenn beispielsweise Mitleid im Zentrum steht statt (selbst)kritischer Fragen. Umso wichtiger ist eine transparente, kritische und selbstkritische Reflexion über die Möglichkeiten und Grenzen der Narrativen Medizin in Lehre, Forschung und Anwendung. Das Deutsche Netzwerk für Narrative Medizin möchte hierzu einen Beitrag leisten.